Die baden-württembergische Landesregierung hat am 8. April die „Leitperspektiven“ eingeführt. Diese tragen offiziell den Titel: Arbeitspapier für die Hand der Bildungsplankommissionen als Grundlage und Orientierung zur Verankerung von Leitperspektiven. Durch die Proteste in Folge der Petition sind die „Leitprinzipien“ Geschichte. Die Leitperspektiven dienen jetzt den Bildungsplankommissionen als Grundlage der Erarbeitung des Bildungsplans 2016. Sie sind übergreifend und nicht einem einzelnen Fach zuzuordnen.
Die Aufgabe der Bildungsplankommissionen ist,
„für deren spiralcurriculare Verankerung in den einzelnen Fächern zu sorgen. Die unter den einzelnen Leitperspektiven vorgeschlagenen Kompetenzformulierungen sind demnach mit fachbezogenen prozessualen und inhaltsbezogenen Kompetenzen abzugleichen. Das kann auch eine sinngemäße Einarbeitung bedeuten“ (S. 1).
Ziel des Abgleichs von Leitperspektiven und den Kompetenzen
„sind altersgerechte und fachdidaktisch begründete Kompetenzformulierungen in den Standardstufen der jeweiligen Fachpläne. Nicht intendiert ist eine Übernahme der vorgeschlagenen Kompetenzformulierungen in vollem Umfang und Wortlaut. Die in diesem Arbeitspapier enthaltenen „möglichen Inhalte“ sind als Vorschläge und Anregungen zu begreifen.“ (S.1)
Was wurde verändert? Was blieb erhalten?
Die neuen Leitperspektiven enthalten gut 90% des ursprünglichen Textes der alten Leitprinzipien (Schneider-Happrecht, S. 1). Das Querprinzip „Akzeptanz der sexuellen Vielfalt“, das alle anderen Leitprinzipien durchzog, wurde herausgenommen und in eine 6. Leitperspektive „Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt“ integriert. Die Wortkombination LSBTTI und sexuelle Vielfalt sind ganz gestrichen worden. Stattdessen wird die Wortkombination „sexuelle Orientierung“ (5x) und „geschlechtliche Identität“ (4x) verwendet. 17x kommt Vielfalt in dem Arbeitspapier vor. Schwule, Lesben, Bisexuelle, Transsexuelle und Transgender, Intersexuelle werden einmal namentlich ausgeführt (S. 9).
Die Grundlagen von „Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt“
Das Vorwort der „Leitprinzipien“ nimmt explizit Bezug auf die Grundlagen für „Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt“. Diese sind:
1. die Menschenwürde,
2. das christliche Menschenbild, sowie
3. die staatliche Verfassung mit dem besonderen Schutz von Ehe und Familie.
Es lohnt sich einen genaueren Blick auf das Arbeitspapier zu werfen, welche Rolle die Grundlagen im weiteren Verlauf spielen:
- Menschenwürde kommt außer an dieser Stelle gerade zwei Mal vor: Als Kompetenzbeschreibung auf S. 9: „die Begründung der Unverletzlichkeit der Menschenwürde sowie die Grundrechte anhand von Beispielen entfalten“, sowie als möglicher Inhalt bei Prävention und Gesundheitsförderung auf S. 13: „Menschenbild und Menschenwürde“.
- Die Institution Ehe wird außer in der Einleitung kein einziges Mal mehr in dem Dokument erwähnt! Hier öffnet sich ein Graben zu einer weiteren Leitperspektive auf: Die Bildung für nachhaltige Entwicklung, dass die Schülerinnen und Schüler zur verantwortungsvollen und aktiven Gestaltung einer zukunftsfähigen Welt befähigt werden sollen. Der Aspekt der generativen Nachhaltigkeit, die die Ehe wie keine andere Institution in unserer Gesellschaft ermöglicht, wird schlicht unterschlagen. Es wäre zukunftsweisend, wenn mit der Leitperspektive Ernst gemacht werden würde und Schülerinnen und Schüler die zentrale Bedeutung von sicheren, stabilen Bindungen in allen Lebensphasen erklären könnten. Dann würde man Kompetenzbeschreibungen unter „Lebensformen und ihren Wirkungen“ vorfinden wie
- „Sie können die gesundheitsfördernden Wirkungen stabiler Paarbeziehungen und über die körperlichen, seelischen und sozialen Risiken eines promisken Lebensstils beschreiben.“
Es überrascht nicht, dass der demografische Wandel als eine große gesellschaftliche Herausforderung für junge Menschen konstatiert wird. Wie allerdings diesem zu begegnen ist, darüber schweigen sich die Leitperspektiven aus.
- Familie kommt noch einmal in dem Arbeitspapier vor, nämlich gender-konform im Plural auf S. 9 „Familienformen und Formen des Zusammenlebens“. Von der Familie im Singular wird nicht mehr gesprochen.
- Es überrascht nicht, dass das christliche Menschenbild im weiteren Verlauf des Dokuments nicht Erwähnung findet. Die Frage ist, wenn das Menschenbild nicht christlich begründet wird, welchen Vorstellungen folgen dann Leitperspektiven? Das leitende Menschenbild im aktuellen Entwurf des Bildungsplans hat Oberkirchenrat Dr. Schneider-Harpprecht von der Evangelische Landeskirche in Baden in der Landtagsanhörung vom 9. Mai gut beschrieben, „sei das des postmodernen Individuums, „das sich primär als Selbst entfaltet, sich selbst wahrnimmt, artikuliert, fühlt, analysiert, sich motiviert, seinen Willen erkennt und handelt.“ Dessen zentralen Werte seien „Selbstbestimmung, Teilhabe und Gerechtigkeit im Sinne der Anerkennung der Selbstbestimmung und Teilhabe der anderen Selbste“. Der Leitwert sei die Anerkennung der Pluralität. „Das autonome Ich steht anderen Ichs gegenüber, die mit der ihnen eigenen Würde und eigenem Recht der Welt begegnen, ihre Sicht entwickeln und sich artikulieren. Die Pluralität der je für sich stehenden Ichs wird zusammengehalten durch Respekt, Toleranz und Akzeptanz des anderen in seiner Andersheit.“ (Schndeider-Happrecht, S. 4)
Die Leitperspektiven: ein mehr an Gender
Man kann es mit einem Satz zusammenfassen: die offensichtlichen Passagen in den „Leitprinzipien“ vom November 2013, in denen die Interessen der Lesben, Schwulen-, Bi-, und Transsexuellen Interessensgruppen im Vordergrund standen, wurden massiv zurückgefahren. Die verschiedenen Gender-Konstrukte wurden dagegen massiv hochgefahren. Gerade die unspezifischen Gender-Formulierungen auf den Seiten 9-13 bieten den Interessensgruppen so eine Hintertüre um ihre Plattform an den Schulen Baden-Württembergs zu erhalten. Dies wird auch durch die Aussagen von Kultusminister Stoch vom 8.04.2014 unterstrichen:
„Es werden darin [im Bildungsplan] neben der sexuellen Vielfalt die Themen Toleranz und diskriminierungsfreier Umgang mit Vielfalt in personaler, religiöser, kultureller, ethnischer und sozialer Hinsicht in einem größeren Kontext behandelt. Das Thema Akzeptanz sexueller Vielfalt erhält in diesem Zusammenhang einen hohen Stellenwert im neuen Bildungsplan.“
Weitere Baustellen im Bildungsplan
In den vergangenen Monaten ist zurecht darauf aufmerksam gemacht worden, dass die Diskussion um die „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ einen entscheidenden Blick auf den Bildungsplan in den Hintergrund hat treten lassen: dass die „Leitperspektiven“ von einem neoliberalen Menschenbild geprägt sind, das den Menschen primär auf seine wirtschaftliche Verwertbarkeit festlegt. Vergleicht man die früheren Bildungspläne des Landes Baden-Württemberg, fällt einem die Erosion des Bildungsbegriffs auf. Dies kommt nicht von ungefähr und bedarf einer weiterführenden Kritik, die hoffentlich von einem ähnlich breiten Konsens getragen wird wie die Kritik der Petition zum Bildungsplan.